Cockpit

Boarding:


• Ein Aprilabend mit Regen vor dem Fenster, wenn es eben dunkel wird, und der Wind mit den Zweigen der Birke die Straßenlaterne peitscht.
• Ein Zimmer im ersten Stock mit Fenster nach Westen, wo knapp über dem Horizont noch ein silbergrauer Streifen zu sehen ist.
• Mein Ledersessel mit dem Hocker zum Beinehochlegen und daneben die Lesestehlampe, IKEA 1980.
• Eine Flasche Faustino VII 2021.
• Ein Ritzenhoff-Rotweinglas aus der Kollektion „Sagengold“, die #1: Theseus, Ariadne, der Minotaurus.
• Lesebrille, Tablet.
• Das Wichtigste: Der Band „439 Gedichte“ von Charles Bukowski, Frankfurt 2003, Verlag Zweitausendeins, die Hardcover-Ausgabe mit Goldprägung.


Runway:


Rotwein ins Glas, schnüffeln: Urlaubsbilder, die steinigen Hügel auf Fuerteventura. Sonne. Kakteen. Sanfte Wellen, die auf dem Sand auslaufen. Und wie fast immer Wind natürlich. – Theseus … Ich sitze wieder in der Landzahnarztpraxis von Dr. Burger in einem 1000-Seelen-Dorf in Oberfranken, knappe zehn Jahre alt, Ende der 60er. Zonenrandgebiet. Stundenlange Wartezeit. 20+ Leute im Raum vor der Tür zum Behandlungszimmer, die sich nur viel zu selten öffnet. Auf meinen Knien die „Sagen des klassischen Altertums“ von Gustav Schwab. Karies an einem Backenzahn macht Odysseus, Herakles, die Argonauten und den Minotaurus-Bezwinger zu meinen Freunden. Zwischen den Zeilen leuchtet blau der Himmel über der Ägäis, in dem weiße Vögel Kreise ziehen. Der Faustino ist mega. Ich lasse jeden Schluck im Mund langsam hin und her rollen, mit der Luft durch die Nase finden die Aromen ihren Weg zu den Geruchsnerven, und das Zimmer wird noch dunkler und wärmer, der Sessel noch tiefer. Mein Cockpit. Wieder das Glas in die Hand nehmen, mit dem Finger die Echtgold-Linien nachfahren, hinter denen der Tempranillo schimmert wie das Blut griechischer Helden. Tropfen klatschen ans Fenster. Mein Daumen findet den Weg zwischen zwei Seiten des Gedichtbandes von Bukowski, Seite 365, „Eins“. Buk, der Pferderennenjunkie. Er zählt einfach nur auf: Die Boxen, die Strecken, der Totalisator, die Jockeys, die Tribünen. Und über die, die wie er selbst mal wieder nichts gewonnen, aber alles verloren haben: „… der taube Schmerz des verwehrten Traums in tausend Gesichtern.“ So macht er das. Ein bisschen Blabla, und nach dem letzten Komma haut er dir einen Diamanten wie einen Prägestempel in die Stirn. Linda, seine Witwe, lebt noch. Hat nie wieder geheiratet, taucht ab und an in L.A. auf irgendwelchen Vernissagen auf, lebt zurückgezogen. Ich lese nur dieses eine Gedicht, das ist mehr als genug. Dann Augen schließen, noch ein Schluck, und Abflug ..


Über den Wolken:


Der Klang der Worte vermischt sich mit dem Duft des Weins und dem Prasseln des Regens und es passiert, was nur sehr selten passiert: Ein paar Atemzüge Leichtigkeit — dem Wein, den sagenhaften Gestalten auf dem Glas, einer Hand voll präzise geschliffener Worte und dem Regen geschuldet.


Nichts, das bleibt. Nichts, das man einfangen und irgendwo bunkern kann. Alles, was ist, jetzt.

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